Vortrag zum Thema »Digitale Lesemedien als Eigenschaftsbündel«

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Svenja Hagenhoff hält den Vortrag auf der Tagung »#Lesen. Transformationen traditioneller Rezeptionskonzepte im digitalen Zeitalter« (6.-7. April 2017) des Graduiertenkolleg 1787 Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung der Georg-August-Universität Göttingen.

Abstract

Der Beitrag kritisiert bisherige Betrachtungen digitaler Lesemedien als objektivierte Entitäten (›E-Book‹) und stellt einen Lösungsansatz zur Beschreibung des Formalobjekts und die damit verbundenen Erkenntnispotentiale für die Lese- und Leserforschung sowie medienökonomische Betrachtungen vor.

Desiderate

Bisherige Forschungen typisieren Medien nach wie vor entlang etablierter Gattungen wie Buch, Zeitung oder Zeitschrift: Die Lese- und Leserforschung spricht ihnen beispielsweise spezifische Funktionen und Leseweisen zu, auf deren Basis allgemeine Erkenntnisse zu Leseprozessen generiert werden (hierzu Kuhn/Rühr 2010). Die medienökonomische Forschung wiederum typisiert Märkte und Geschäftsmodelle in dieser Form und erzeugt Aussagen zu Leistungsprozessen von Organisationen und Wichtigkeit und Relevanz von Medien. Die Fortsetzung dieses objektorientierten Ansatzes zur Fassung von Analyseobjekten in der digitalisierten Welt erscheint wenig vielversprechend, verschwimmen die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gattungen, so es sie überhaupt je gegeben hat (zur seltenen Kritik in Bezug auf ökonomische Aspekte z.B. Sommer/Rimscha 2014).

Eigenschaften statt Objekte

Statt einer objektorientierten Bestimmung des Analysegegenstands schlagen wir deshalb vor, zwischen medialen Möglichkeiten und konkreten Medienobjekten stärker als bisher zu unterscheiden. Hierzu wurde eine Matrix aus Eigenschaften und deren potentiellen Ausprägungen entwickelt, welche sich auf Rezeptions- und Nutzungsprozesse und damit auch aus Anbietersicht auf Produktions- und Distributionsprozesse von Texten auswirken: Eigenschaften lassen sich dabei den Ebenen der Textanordnung (potentiell multiple Kommunikationskanäle, variable Typografie, Modularisierung und Mutation des Gesamttextes) und des Textzugangs (potentielle Variation der Softwareoberfläche und Navigationsarchitektur, Grad an Interaktivität, Einbindung in Netzwerke) zuordnen.

Erkenntnispotential

Mit diesem eigenschaftsbasierten Formalobjekt lassen sich Rezeptions- und Angebotskonzepte digitaler Lesemedien besser erfassen und analysieren: Die einzelnen Eigenschaften lassen sich spezifischen Bedürfnissen der Leser zuweisen, was detaillierter erklären kann, wieso bestimmte Ausgestaltungen digitaler Texte in bestimmten Lesesituationen oder für bestimmte Leseweisen besser geeignet sind als andere. Die Transformationen etablierter Lesweisen, beispielsweise die höheren Anforderungen und veränderten Assoziationen beim kompositorischen Lesen (Gervais 2007, S. 184), die zunehmende Nutzung diskontinuierlicher Leseweisen (Carusi 2006, S. 166–169; Vandendorpe 2007, S. 206) oder die Effekte interaktiver Präsentationsumgebungen (Hillesund 2010; Mangen 2008, S. 406) lassen sich so stringenter erklären. In medienökonomischer Perspektive lassen sich mit einer eigenschaftsbasierten Definition digitaler Lesemedien differenziertere Analysen in Bezug auf die Gestaltung der Prozesse der Leistungserstellung, der strategischen Positionierung in Märkten sowie kaufentscheidender Faktoren realisieren. Bei beispielsweise wenig einzigartigen Textsortenkönnte eine Eigenschaft wie die gute Bedienbarkeit des digitalen Lesemediums oder die ergänzenden multimedialen sowie interaktiven Ergänzungen des Textes der kaufentscheidene Nutzenstifter werden.